Die kleine Prinzessin war traurig. Beunruhigt fragte die Königin sie, warum sie so traurig sei. ?Ich möchte den Mond haben?, erwiderte das kleine Mädchen und sah die Mutter mit Tränen in den Augen an. ?er ist so schön.? Die Königin tätschelte beschwichtigend den Lockenkopf ihrer Tochter, murmelte etwas Unverständliches und verließ mit sorgenumwölktem Gesicht das Zimmer der Prinzessin. Sie berief ihren Hofrat ein und unterbreitete ihm ungeduldig das Problem. Der Magier trat vor. ?Majestät, der Mond ist ein wagenradgroßer Pfannkuchen, den der Fenriswolf binnen eines Monats bis auf ein klitzekleines Stück, dem menschlichen Auge unsichtbar, auffrißt. Würde man – nach Bewältigung unsäglicher Gefahren – den Mond entwenden, so stürzte der Fenriswolf hungrig auf die Erde hinab, und wir wären uns unseres Lebens nicht mehr sicher. Ich halte den Wunsch der Prinzessin für unerfüllbar, denn …?
Die Königin winkte ungnädig ab, und der Magier trat zurück.
Als nächster äußerte sich der Priester: ?In unseren alten Schriften ist zu lesen, daß es sich beim Mond um eine Kupferscheibe handelt, welche Hunderte von Meter hoch aufgehängt ist. Sein Durchmesser ist doppelt so groß wie Euer ganzer Palast. Es gibt keine Leiter, die groß genug wäre, ihn zu holen. Die Königin hob mißbilligend die Augenbrauen, und der Priester schwieg beleidigt.
Zuletzt ließ sich der Astronom vernehmen. Er räusperte sich wichtigtuerisch und begann: ? Der Mond ist ein riesiger toter Gesteinsbrocken, Tausende von Kilometer weit entfernt, und sein Umfang ist mehrmals so groß wie euer Königreich, oh Königin. Menschliche Kraft vermag nie und nimmermehr, ihn herabzuholen?. Alle blickten bestürzt zu Boden. ? Das nützt mir alles nichts. Was soll ich denn nur meiner Tochter sagen?!? herrschte die Königin ihre Gefolgschaft an. Betretenes Schweigen trat ein.
? Ich will keine Gründe hören, warum das nicht geht, ich will eine Lösung, meine Herren!?
Als die Königin kurz davorstand, in einen königlichen Wutanfall auszubrechen, meldete sich zaghaft eine erst kürzlich eingestellte Kammerzofe zu Wort, ein blutjunges Ding.
? Du?? wunderte sich die Königin, ? du hast eine Lösung?? Die Zofe erwiderte schüchtern: ?Ich nicht, Eure Hoheit, aber möglicherweise die alte Frau, die täglich die Kräuter für die Küche bringt. Sie hat, glaube ich, zuletzt mit der Prinzessin gesprochen."?
Die Königin gebot dem aufkommenden empörten Gemurmel Einhalt und ließ die Kräuterfrau unverzüglich herbeihole. ?Ja?, sagte die alte in das gespannte Schweigen hinein, ? die Prinzessin hat mir von ihren Wunsch erzählt. Ich habe sie dann gefragt, was sie denn mit den Mond machen wolle. Sie sagte, sie wolle ihn sich um den Hals hängen. Auf meine Bedenken, er sei vielleicht zu groß, beruhigte sie mich, er sei doch nur so groß wie ein Daumennagel. Ich war erstaunt, wie genau sie das wußte. Es sei ganz einfach, sagte sie, wenn sie ein Auge zukneife, könne sie den ganzen Mond mit dem Daumennagel bedecken. Der Mond müsse daher genau diese Größe haben. Das leuchtete mir ein, und sie ergänzte, vermutlich sei er aus Silber. Nun wollte ich wissen, wie hoch oben er sei und ob man ihn denn holen könne. Sie lachte. Der Gärtner müsse nur abends auf den hohen Baum vor ihrem Fenster klettern, denn der Mond bliebe jeden Abend zwischen den Zweigen hängen, da könne man ihn bestimmt abnehmen.?
? Ja, du hast tatsächlich die Lösung gefunden, im Gegensatz zu meinen Experten.?
Die Königin blickte triumphierend auf ihre Berater, die sich verlegen wanden, und befahl dem Hofjuwelier, unverzüglich eine Kette mit einem Silbergeschmeide von der Größe des Daumennagels der Prinzessin anzufertigen.
Da meldete sich aufgeregt der Priester zu Wort: ?Da gibt es noch ein Problem, Königin. Jetzt ist Neumond, doch was geschieht, wenn wieder Vollmond ist und der ganze Schwindel herauskommt?? Hämisch grinsend schaute er zu der Kräuterfrau hinüber. Alle, auch die Königin sahen sie fragend an. Doch die Kräuterfrau zuckte unbekümmert mit den Achseln. ?Ich kann sie ja fragen, wie sie sich das vorstellt.?
Die Königin entließ sie mit erleichtertem Nicken, während der Hofrat in aufgeregtes Diskutieren verfiel. Es dauerte nicht lange, bis die Kräuterfrau zurückkehrte. Jäh brachen die Diskussionen ab, und sie berichtete: ?Die Prinzessin hat mich ausgelacht. Sie sagt, jedes Kind wisse doch, daß sogar das Gras alle paar Wochen gemäht werden muß, weil es schnell nachwächst. Sie sei sicher, daß auch der Mond nachwachsen würde.?
Die Königin ernannte die Kräuterfrau zu ihrer persönlichen Beraterin, und alle, bis auf den Hofrat, lebten glücklich weiter.
Prinzessin, die den Mond haben wollte
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