Heutzutage wird in Unternehmen zu viel an die Führungskräfte delegiert. Die Konsequenz sind Managementfehler und immer mehr Fälle von Burn-out. HR agiert dabei unglücklich. Es sollte sich mehr um die Verhältnisse als um das Verhalten kümmern.
Stressreport, Burn-out, Managementfehlverhalten, mit Vorgesetzten unzufriedene Mitarbeiter: Fast könnte man meinen, die Unternehmen verheizen gerade eine ihrer wichtigsten Ressourcen: die Führungskräfte. Doch Führung und Unternehmen setzen einander voraus. Unternehmen brauchen Personen, die das Zusammenspiel der organisatorischen Elemente gestalten, das Unternehmen weiterentwickeln, gar transformieren. Organisationen benötigen eine Instanz, die Verantwortung übernimmt. Führungskräfte dagegen benötigen geregelte Aufgabenverteilungen, Abläufe, Führungs- und Entscheidungsstrukturen, um ihre Ziele zu erreichen – an die ihr Bonus gekoppelt ist.
Sie brauchen „die Organisation“, um Karriere zu machen. Mit Blick auf Studienbefunde und in die Praxis entsteht der Eindruck, dass dieses ehemals balancierte Verhältnis ins Rutschen geraten ist. Kurz- und mittelfristig geht dies auf Kosten der Führungskräfte, langfristig zu Lasten der Unternehmen. Die HR-Funktion spielt dabei eine unglückliche Rolle, weil sie vielerorts engagiert und hochprofessionell agiert, jedoch eher Symptome und weniger die Ursachen bearbeitet.
Das gängige Organisationsparadigma lässt sich mit den Attributen flach, agil, innovativ, adaptiv und virtuell sowie mit Begriffen wie Prozessorientierung, Netzwerke und Allianzen skizzieren. Die Grundidee einer Organisation, die effektive und effiziente Ressourcen- und Aufgabenteilung, ist bei allen Moden und Trends im Organisationsdesign stabil. Organisatorische Komplexität – lange Zeit ein Unwort – ist heute unvermeidlich, wollen Unternehmen mit (neuen) Kunden, mit verschiedenen Business und Services in unterschiedlichen Ländern agieren. Sich als Führungskraft in diesen strukturellen Rahmenbedingungen erfolgreich zu bewegen und Mitarbeiter darin zu navigieren, ist zeitraubend und anspruchsvoll.
Ein kurzer Blick in die Praxis: Die neue Aufstellung im Vertrieb ist beschlossen, Leitbild ist „closer to customer“. Mit dem neuen regionalen Zuschnitt werden sich Führungsverhältnisse verändern. Einige werden das Unternehmen verlassen müssen, die Verbleibenden werden neue Controlling-Prozesse und kundenorientiertes Verhalten einüben. Frische, junge Vertriebler sollen eingestellt, motiviert und rasch produktiv werden. Das Vergütungssystem wird angepasst: Leistungsdifferenzierung, höhere variable Anteile und strikte Compliance ist nun verpflichtender individueller Bestandteil der Zielvereinbarung. Der Vorstand erwartet das neue Vertriebsreporting. Allein: das existiert noch gar nicht. Und niemand in der Organisation nimmt sich dem Reporting an. Die Controller schieben in Richtung IT, weil dort die Verantwortung für die Daten liegt. Die IT schiebt es zum Vertriebsinnendienst. Von dort geht es zum Vertriebsleiter, weil dessen Mannschaft die Daten einpflegen muss. Die können dies aber nicht – es wurde noch nicht mit allen über das Konzept und das neue Controlling-Tool gesprochen.
Was dann passiert, ist klar: Die Organisation startet eine „top down“ lancierte Management-Kommunikation, die den Führungskräften die Dringlichkeit und ihre Verantwortung für die Problemlösung sehr bewusst macht. Die Erwartung „der Organisation“ ist, dass die Vertriebsführungskräfte Mayer, Müller und Schulze nun irgendwie mit der Problemlösung beginnen – und sich dabei sicher im Regelungsdickicht bewegen. Als Einzelfall zwar ärgerlich, aber lös-bar. Heute kommen derlei organisatorisch produzierte Schwierigkeiten aber zu oft auf dem Schreibtisch der Führungskraft zum erliegen. „Leadership“ wird zur einfachen und platten Antwort auf jedwedes strukturelles und prozessuales Problem, das eigentlich von der Organisation noch vor der Entstehung beseitigt werden könnte – mit einem gut organisierten Reorganisationsprojekt.
Apropos Reorganisation: Der Befund „nach der Reorganisation ist vor der Reorganisation“ stimmt für viele Unternehmen. Bei organisationalen Veränderungen stehen Führungskräfte unter doppelter Beobachtung und zweifachem Erwartungsdruck. Als Initiator der Veränderung erwartet das Top-Management die rasche, überzeugte Umsetzung. Die Mitarbeiter erwarten verlässliche Interpretationen der Auswirkung der Veränderung auf ihre konkrete Arbeitssituation. Nach Jahren des Abwatschens und Ausdünnens wird gerade der „mittlere Manager“ als wertvolle Ressource für „Change Leadership“, als „Transmissionsriemen für Veränderung“ entdeckt. Das Bild eines Gurts, der eine zentral erzeugte Kraft einfach nur überträgt, verdeckt dabei einen Teil der Wirklichkeit. Das treffendere Bild ist eher das des Lasten schleppenden Kuli oder Sherpa.
Was wird heute von Führungskräften vor einem solchen Hintergrund erwartet? Eine Synopse allein der „Top-Anforderungen“ an Führungskräfte käme gut und gern auf eine dreistellige Zahl. Unabhängig davon, was dabei so alles geschrieben wird, materialisieren sich Anforderungen in Führungskompetenzen, die zur Auswahl, Leistungsbewertung und Entwicklung von Führungskräften im Unternehmen herangezogen werden. Gestaltung der unternehmensspezifischen Führungskompetenzen und das Design der HR-Instrumente obliegen dem Personalbereich. Darin ist man in der Regel richtig gut: präzise gearbeitete Verhaltensbeschreibungen, professionelle, teilweise IT-gestützte 360-Grad-Instrumente, Einkauf spezialisierter Management-Diagnostik–Experten, die wiederum valide Persönlichkeitstests im Gepäck haben. Für das Management Development wird auf Kooperation mit Business Schools gesetzt. Zudem hat man oft einen Pool an qualifizierten Führungs-Coaches, die individuell mit den Managern arbeiten.
In dieser Professionalität liegt jedoch ein Teil der Problematik: Organisatorische Probleme, die in Struktur, in Prozessen, Governance, IT-Systemen oder gar der Kultur der Organisation entstehen, werden mit derlei Instrumenten nur partiell geglättet. Man investiert viel in Verhalten und vernachlässigt die Verhältnisse. Wo immer dies so ist, besteht Gefahr, dass man sich zu wenig um die andere Seite von Führung, also Organisation, bemüht. Einige der Ursachen für gescheiterte Reorganisation und organisatorische Probleme liegen in einer zu engen Herangehensweise.
Organisationsgestaltung einerseits als flexibles, sogar weiches Agieren in einem System und als Prozess zu begreifen, andererseits nicht vor strukturellen, kennzahlengetriebenen Aufgaben zurückzuscheuen, ist anspruchsvoll – und selten in der Praxis ernsthaft versucht. Als Manager und Personalbereich überlässt man lieber Strategieberatungen das Feld des Organisationsdesigns und des harten strukturellen Schnittes; den systemischen Coaches hinterher dann das Arbeiten mit den neuen oder übrig gebliebenen Teams.
Dabei sind Personalbereiche in einer privilegierten Situation: Bei den strukturellen Themen geht es um Hierarchien, Führungsspannen, Stellenprofile und deren Bewertung, es geht um Konsistenz und Stimmigkeit der Organisation. Die hierfür notwendigen Daten liegen im direkten Zugriff von HR. Was liegt näher als eine Analyse der bestehenden Organisation zu fahren und hieraus Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Organisation abzuleiten? Doch diese Mühe macht man sich im Business kaum.